Das Kinodrama „One Life“ mit Anthony Hopkins
Wie ein Brite 669 Kinder vor den Nationalsozialisten rettete
Lebensretter im Fernsehstudio: Noch ahnt Nicky Winton (Anthony Hopkins) nicht, was ihn bei der BBC-Show „That's Life“ erwartet.
Quelle: Peter Mountain/SquareOne Enterta
Nicolas Winton verstand sich als ein „ganz normaler Mensch“. Und doch tat er Außergewöhnliches: Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs holte er Kinder aus Prag nach England. Ein anrührender Kinofilm mit Anthony Hopkins in einer seiner besten Rollen erinnert nun an den Mann, der nie viel Aufhebens von sich machen wollte.
Im Jahr 1988 sitzt Nicholas Winton in einer BBC-Show, in der er nie hatte sitzen wollen. „Lächerlich“ hat seine Frau Grete die Sendung „That‘s Life“ ein paar Tage zuvor noch genannt, Winton (Anthony Hopkins) sieht das genauso. Doch er will „diese Sache“ zu Ende bringen. Und dann erlebt der Brite ausgerechnet vor den aufdringlichen Kameras der auf Verbraucherthemen spezialisierten Sendung den aufwühlendsten Moment seines Lebens: Endlich kann er sich verzeihen, dass es ihm einst nicht gelungen war, noch mehr Kinder zu retten. Denn er erkennt mit tränenfeuchtem Gesicht, wie viele er gerettet hat.
Weiterlesen nach der
Anzeige
Weiterlesen nach der
Anzeige
Auf diesen Augenblick hin hat Regisseur James Hawes sein Kinodrama „One Life“ inszeniert. Er kann sich dabei auf wahre Begebenheiten berufen. Genau so hat sich diese Show abgespielt, als die Welt 1988 endlich erfuhr, wie Winton kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs alles daran gesetzt hatte, zumeist jüdische Kinder aus Prag nach London zu holen. Es gibt Videos von „That‘s Life“ im Internet.
Bis dahin lagen die Erinnerungsstücke aus Wintons Vergangenheit in einer alten ledernen Aktentasche in seinem unaufgeräumten Schreibtisch. Zumindest im Film „One Life“: vergilbte Passfotos, lange Namenslisten auf Butterbrotpapier, Bittschreiben an Politiker bis hin zum US-Präsidenten.
Weiterlesen nach der
Anzeige
Weiterlesen nach der
Anzeige
1938 war Winton (als junger Mann gespielt von Johnny Flynn) zu Freunden nach Prag gereist. Ein kurzer Urlaub sollte es sein, mehr nicht. Im Sudetenland hatten die Nationalsozialisten bereits die Macht übernommen. Noch aber hoffte die internationale Gemeinschaft auf einen Erfolg der Appeasem*nt-Politik gegenüber Deutschland. Die Regierungen von Frankreich und England hatten Hitler beim Münchner Abkommen keinen Widerstand entgegengesetzt.
Tausende Menschen waren daraufhin in die freie tschechoslowakische Hauptstadt geflüchtet, viele jüdische Familien. Ihr Elend brachte den Bankangestellten Winton ohne jedes Zögern zu seinem Entschluss: Er setzte alle Hebel in Bewegung, um Kindertransporte nach England zu organisieren.
Anthony Hopkins zwischen feinem Humor und schier unstillbarer Verzweiflung
Auf zwei Zeitebenen erzählt Regisseur Hawes recht konventionell diese bewegende Geschichte: Immer wieder reisen wir in den Erinnerungen Wintons zurück nach Prag. In gedeckten Farben erleben wir die Dramatik jener Monate. Wintons Helfer bringen die Kinder unter zunehmender Gefahr in die Züge – Hitlers Helfer sind bereits überall. Derweil plagen sich Winton und seine couragierte Mutter Babette (Helena Bonham Carter) in London mit den Behörden wegen der Visa herum, suchen Geldgeber und aufnahmebereite Pflegefamilien.
Damals dachten die Beteiligten noch, dass die Kinder irgendwann zu ihren Eltern würden zurückkehren können. Dass diese alle ermordet würden, lag außerhalb des Vorstellungsvermögens nicht nur von Winton.
Spannender noch als die Rückblicksplitter ist die Filmgegenwart. Anthony Hopkins spielt Winton bei allem feinen Humor mit einer schier unstillbaren Verzweiflung, die ihn seit den Geschehnissen in Prag nie wieder losgelassen hat. Dieser Mann will keinesfalls Aufhebens von sich machen. Aber er will auch nicht, dass mit ihm in Vergessenheit gerät, was „ordinary people“, ganz normale Leute, wie es hier immer wieder heißt, bewegen können.
Weiterlesen nach der
Anzeige
Weiterlesen nach der
Anzeige
In Wintons Gegenwart ist die britische Regierung gerade dabei, tamilische Flüchtlinge abzuschieben. Solche Nachrichten im Radio kann Winton nicht ertragen. Dann stellt er das Gerät ab. Assoziationen ans Jahr 2024 sind unvermeidbar. Heute sollen Flüchtlinge aus vielen europäischen Ländern in sogenannte sichere Drittstaaten entsorgt werden, im Fall Englands bis nach Ruanda.
Winton überwand 1938/1939 alle Schwierigkeiten, die im Film nur angedeutet werden: Ihm gelingt es, 669 Kinder per Zug durch halb Europa nach England zu bringen. Als der neunte Zug schon auf die Abfahrt wartet, beginnt am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg. Die Deutschen stoppen den Zug.
Von diesem Augenblick an fragte sich Winton: Hätte er schneller handeln müssen? Hätte er die mehr als 200 Kinder im Zug noch irgendwie in Sicherheit bringen können?
Erinnerungen an „Schindlers Liste“
Es fällt im Film ein Satz aus dem Talmud, den wir aus Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ kennen: „Wer auch nur ein Leben rettet, rettet die ganze Welt.“ Als „britischer Schindler“ mochte sich der historische Winton nie bezeichnen lassen. Er starb, vielfach geehrt, am 1. Juli 2015 im Alter von 106 Jahren. Seine aus Deutschland stammende Familie war jüdischer Abstammung.
Weiterlesen nach der
Anzeige
Weiterlesen nach der
Anzeige
Bei jener „That‘s Life“-Show 1988 hatte die TV-Moderatorin einen Wunsch an die Zuschauerinnen und Zuschauer im voll besetzten Fernsehstudio gerichtet: Es sollten sich doch all jene erheben, die ihr Leben Nicholas Winton zu verdanken hätten. Nicholas Winton bleibt erst einmal sitzen in der ersten Reihe, vermutlich weil er keine Ahnung hat, was sich gerade in seinem Rücken tut. Dann dreht er sich um.
„One Life“, Regie: James Hawes, mit Anthony Hopkins, Johnny Flynn, Helena Bonham Carter, 107 Minuten, FSK 12