Homeoffice: Nicht alles Gold, was glänzt – DW – 08.12.2020 (2024)

Aufstehen und vom Bett übers Bad direkt an den Schreibtisch. Seit März ist das für viele Deutsche die neue Realität. Einer soeben erschienenen Umfrage desDigitalverbandes Bitkom zufolge sind das über zehn Millionen Arbeitnehmer - und damit jeder vierte Erwerbstätige.Inzwischen haben sich die meisten wohl an das Arbeiten aus dem Homeoffice gewöhnt und wissen die Vorteile zu schätzen. Und wie die Bitkom-Umfrage weiter zeigt, wollenviele Beschäftigte auch nach der Pandemie flexibler arbeiten möchten. Doch auch die negativen Seiten werden nach Monaten im Homeoffice immer präsenter.

Klaus Dörre ist Wirtschaftssoziologe an der Universität Jena und davon überzeugt, dass die Arbeit im Homeoffice langfristig negative Auswirkungen haben wird. Vor allem drei Faktoren sind in seinen Augen dafür verantwortlich. Zunehmende Unsicherheit oder gar Aggressionen, ein Wegfall der sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz sowie zunehmender Stress.

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Die digitale Kaffeeküche

Anders als in der Face-to-face Kommunikation gibt es in Videokonferenzen weniger direktes Feedback durch kleine Gesten oder Ausdrücke; diese sonst als so normal wahrgenommene Interaktion fehlt schlicht. Dadurch können Unsicherheit und Aggression entstehen, da Bestätigung wegfällt und es so schwerer sei, die eigene Leistung richtig einzuschätzen. Damit verbunden ist der Faktor des fehlenden Austausches am Arbeitsplatz.

"Was völlig wegfällt ist, ich sage jetzt mal die Kaffeeküche, in der beim informellen Gespräch die besten Ideen entstehen. Also die kreativen Prozesse, die in der Regel kollektiv laufen", fasst Dörre zusammen und ergänzt: "Die Schwarmintelligenz funktioniert eben doch nicht allein über digitale Kommunikation." Verabredungen im digitalen Raum seien anders als im realen Raum zeitlich begrenzt und verfolgten meist ein klares Ziel. So komme es nicht zu kleinen, eher zufälligen Gesprächen auf dem Flur, die im Büroalltag zur Normalität gehören.

Zwar klingt Homeoffice klingt erst einmal nach Entlastung, doch auch hier warnt Dörre vor einem allzu trügerischem Eindruck. Denn es gehen auch Autonomiespielräume verloren, unter anderem durch neue Kontrollmechanismen. Gerade die ersten Wochen und Monate waren für viele eine höhere Belastung.

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Doppel- und Dreifachbelastung

Besonders hart traf das Frauen. In vielen Fällen sind sie noch immer die hauptsächlich Verantwortlichen für Care-Arbeit - also das Sich-Kümmern, quasi nebenbei, um die Kinder und auch Abwasch und Wäsche wollen erledigt werden. Von einem Rückfall in alte Rollenmuster zu sprechen sei dabei allerdings falsch, weiß Anja Gerlmaier von der Universität Duisburg Essen.

"Wenn man sich die Daten anschaut, dann sieht man, dass es gar keine Rückkehr zu traditionellen Rollenbildern gibt, sondern dass sich die traditionellen Rollenbilder eigentlich während der ganzen letzten Jahre gar nicht substantiell verändert haben", erläutert sie. Laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung sagten immerhin 69 Prozent der Frauen, dass sie in ihrem Haushalt die Hauptverantwortlichen für die Hausarbeit sind.

Die Situation im Homeoffice ist alles andere als förderlich, was sich schon darin zeigt, dass Frauen tendenziell unzufriedener im Homeoffice sind als Männer. Das beginne schon bei der Wahl des Arbeitsplatzes, weiß Gerlmaier. Deutlich öfter als Männer schlagen Frauen ihren Arbeitsplatz nah am Geschehen auf, beispielsweise in der Küche und anderen sehr zugänglichen Räumen im Haus, was in sich bereits dazu führt, dass sie häufiger gestört werden. Die zusätzliche Haus- und Care-Arbeit tut ihr übriges und frisst die durch wegfallende Fahrtwege und ähnliches eingesparte Zeit schnell wieder auf.

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Ein unmöglicher Spagat

Kommen Kinder hinzu, kann frau im Grunde nur noch verlieren, meint Gerlmaier. "Der Versuch, Kindern die Mendelschen Gesetze beizubringen und parallel noch irgendwelche Arbeitsaufgaben zu Ende zu bringen, der muss an der Stelle scheitern", fasst sie die Situation zusammen. Entweder sei frau dann eine Rabenmutter oder die Arbeit würde leiden; die Projektleitung oder andere Aufstiegsmöglichkeiten gingen wieder einmal an die männlichen Kollegen. Der Spagat zwischen beidem ist in ihren Augen so gut wie unlösbar, selbst ohne Corona.

Die Schulschließungen haben dies im Frühjahr deutlich verschärft. "Ich denke, da sind einige Kollateralschäden passiert, dass Frauen wirklich über die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gebracht worden sind und da möglicherweise berufliche und gesundheitliche Probleme bekommen haben", zieht Gerlmaier ein ernüchterndes Fazit. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Wichtig findet die Arbeitspsychologin, hier vor allem klare Regeln abzustecken. So müsse eine geschlossene Tür dann eben auch als eine solche gesehen werden.

Nicht alles ist jedoch schlecht. Vieles könne man auch aus der Krise mitnehmen, denn ein zurück zum Status Quo wird es wohl nicht geben. Da sind sich Dörre und Gerlmaier einig. Gerlmaier ist sich sicher, dass das Homeoffice viele noch nicht ausgeschöpfte Potenziale bietet und sieht ein Umdenken in die richtige Richtung sowohl in der Politik als auch in den Unternehmen.

"Es kommt jetzt eben darauf an, aus der neuen Realität etwas zu machen, sie zu gestalten", ist auch Dörre überzeugt. Zum Beispiel durch Mischformen aus Heimarbeit und Zeit im Büro. Hier schließt sich der Kreis zur aktuellen Umfrage des Digital-Verbandes Bitkom: Der fordert, den Wandel der Arbeitswelt "politisch proaktiv" zu flankieren und mit Anreizsystemen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu unterstützen. Zudem müssten klare Regeln vereinbart werden, um Berufliches von Privatem im Homeoffice abgrenzen zu können.

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Author: Aracelis Kilback

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